Blog: Der Kampf von Jakob Stutz mit seiner Homosexualität

Blog: Der Kampf von Jakob Stutz mit seiner Homosexualität

13.12.2024

Erster Rollenkonflikt

Als kleiner Junge wollte Jakob Stutz seinen Kinderrock einfach nicht gegen eine Hose tauschen.

«Wie sich sonst alle Knaben in ihrem ersten männlichen Kleide gar gross, vornehm und stolz dünken, war bei mir das gerade das Gegenteil. Es wurde mir so bang und schwer und es schämte mich so sehr, dass ich die Mutter um Gottes willen bat, die Hosen mir wieder auszuziehen und den Kittel anzulegen, denn ich wollte und mochte kein Knabe sein, sondern ein Mädchen. Erst nach langer Zeit, als der Kittel gänzlich zerrissen war und man mir keinen andern anschaffen wollte, musste ich mich, so sehr ich weinen und mich dagegen sperren mochte, doch zu den Hosen bequemen. Aber so oft es geschehen konnte, zog ich Kleider von meinen Schwestern an: Ich wollte durchaus kein Knabe sein.

An Soldatenspiel, kriegerischen Waffen und dergleichen hatte ich nicht die geringste Freude. Immer zog es mich zu den Spielgemeinschaften der Mädchen hin, wo ich meistens Szenen aus dem häuslichen Leben mit ihnen aufführte, wobei ich stets die Rolle der Mutter übernahm.»

Aus «Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben»

In seinen Tagebüchern haderte der Zürcher Oberländer Dichter und Pädagoge mit seinem Schicksal und mit Gott, der ihm «eine Weiberseele in einen männlichen Körper» gesetzt habe. Die Zuneigung zu jungen Männern habe ihn um sein «Eheglück» gebracht.

Seine homosexuellen Neigungen müssen zum besseren Verständnis seiner Persönlichkeit in einem Zusammenhang mit seiner häufigen Niedergedrücktheit, Todessehnsucht und Melancholie gesehen werden.

Wie schmerzhaft sein Ringen mit sich selbst war, zeigt sein Tagebuch:

«Warum gibt es Menschen, denen man Vernunft und Verstand nicht absprechen kann, die einen verkehrten, widernatürlichen Geschlechtstrieb gleichsam mit auf die Welt bringen? Die sich auch nie und nimmer entschliessen können, zu heiraten. Sag mir doch ein Mensch, ich bitte dringend, woher das kommen möge? Schreiber, du gehörst leider auch unter diese unglückliche Klasse von Menschen, die gewiss die unglücklichsten auf Erden sind.»  

Aus: Tagebuch Jakob Stutz, Eintrag vom 4.9.1841, Staatsarchiv Zürich

»Ich schreie um Erlösung, aber der Herr antwortet mir nicht. Ich bitte um Krankheit, er lässt mich gesund, ich flehe um den Tod und er lässt mich leben. – Ach lass es doch einmal genug sein. Siehe, ich krümme mich ja wie ein Wurm vor Dir.»

aus: Tagebuch Jakob Stutz, Eintrag vom 15.2.1843, Staatsarchiv Zürich

 

Konflikte mit dem Gesetz

1827 konnte Stutz in Zürich eine Stelle als Unterlehrer in der Blindenanstalt annehmen. 1836 musste er sie jedoch aufgeben, da ihn seine homosexuellen Neigungen in Schwierigkeiten brachten. Jakob Stutz arbeitete danach als Lehrer in einer privaten Anstalt im appenzellischen Schwellbrunn.

Hier geriet er 1841 zum zweiten Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Der damals bekannte Schriftsteller wurde des sexuellen Übergriffs auf einen Schüler angeklagt. Die genauen Umstände und den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Fakt ist, dass Jakob Stutz zu mehreren Wochen Gefängnis mit anschliessender Kantonsverweisung verurteilt wurde. Stutz gab seine Lehrtätigkeit vollends auf, um sich als Klausner auf den Sternenberg zurückzuziehen, fernab jeder Versuchung, wie er hoffte.

Stutz war ein begnadeter Erzähler, Sänger und Gitarrenspieler und begeisterte vorallem junge Burschen, denen er Unterricht im Briefschreiben und Rechnen erteilte. Leidenschaftlich engagierte er sich für die Volksbildung, warb für die Gründung von Bildungsvereinen, die er als probates Mittel gegen die Spiel- und Trunksucht sah.

Nach der Veröffentlichung seiner Biographie «Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben» liess seine dichterische Schaffenskraft spürbar nach. Seine Texte waren nicht mehr gefragt und so fehlten ihm die dringend nötigen Einnahmen. Er litt vermehrt unter Depressionen. Stutz verwahrloste. Als Moralapostel und Satiriker machte er sich aber auch bei den Leuten zusehends unbeliebt und seine Homosexualität wurde immer offenkundiger. Die Leute wandten sich von ihm ab, so auch seine Freunde Senn und Furrer. Die Sternenberger wollten ihn loswerden. Das Pfarramt Sternenberg verzeigte Stutz 1856 und es wurde eine Untersuchung wegen widernatürlicher Wollust eingeleitet. Diesmal setzte es eine dreijährige Verbannung aus dem Kanton Zürich. Gerichtsakten legen nahe, dass ihm junge Männer körperlichen Kontakt anboten und ihn dann erpressen wollten. Frustriert hatten sie ihn angezeigt, nachdem sie bemerkt hatten, dass beim mittellosen Dichter kein Geld zu holen war.

Fast alle wandten sich nun von ihm ab. Der mittlerweile geächtete Volksdichter wanderte umher und schlug sich mal als Privatlehrer, mal als Hausknecht durch. 1867 wurde er schliesslich von seiner Nichte in Bäretswil im Zürcher Oberland aufgenommen, wo er zehn Jahre später verstarb.

 

Zur Geschichte der Homosexualität und deren Verfolgung

Die Anfänge

In der Antike gab es den Begriff der Homosexualität noch nicht. Allerdings waren bei den Griechen Beziehungen zwischen älteren und zumeist jüngeren Männern weit verbreitet.

Zu Beginn des 4. Jahrhunderts wird Homosexualität als Sünde angesehen und die betreffenden Menschen zu Außenseitern gemacht. Das Christentum berief sich dabei auf das Alte Testament. Die Schrift bestimmt die geschlechtliche Vereinigung zwischen Mann und Frau als Schöpfungsplan zur Fortpflanzung und verurteilt die fleischliche Lust. Alle als widernatürlich taxierten Formen des Sexualverkehrs, neben homosexuellen auch nicht zeugungsorientierte, empfängnisverhütende heterosexuelle, wurden unter dem Begriff Sodomie (heute im deutschen Sprachgebrauch auf den Verkehr mit Tieren verengt) zusammengefasst und bis in die Frühneuzeit mit dem Tod bedroht. Reformation und katholische Reform verschärften die Strafverfolgung: In Genf gab es allein zwischen 1560 und 1569 fünfzehn Verfahren wegen Homosexualität, sechs Hinrichtungen und acht Verbannungen. Die bis ins 17. Jahrhundert verfolgte angebliche Teufelsbuhlschaft von Frauen (Hexen) schloss Vorstellungen von Homosexualität und Zoophilie ein.

19. Jahrhundert

Der Begriff Homosexualität ist 1869 erstmals verwendet worden und begann sich zehn Jahre später langsam durchzusetzen. Der Code civile (Code Napoleon) schaffte die Strafbarkeit der Homosexualität zwischen Erwachsenen ab. Er erhielt ab Anfang des 19. Jahrhunderts Geltung, vor allem in den west- und südschweizerischen Kantonen wurde homosexueller Verkehr ganz oder teilweise straffrei. Deutschschweizer Kantone dagegen ahndeten Homosexualität zwischen Erwachsenen weiterhin als Straftatbestand zwischen Offizial- und Antragsdelikt, je nach Kanton schärfer (Luzern, Aargau) oder larger (Bern, Zürich, Glarus, Solothurn).

Im 19.Jahrhundert war die Existenz von Menschen, die das gleiche Geschlecht begehrten, für die Gesellschaft rätselhaft und vor allem nicht normal. Eines der lautesten Argumente gegen die Homosexualität nach Auffassung der damaligen Kritiker war die Normwidrigkeit im Vergleich zur heterosexuellen Gesellschaft. Es wurde nicht akzeptiert, dass es Menschen gibt, die von der geltenden Sexualitätsnorm abwichen. Homosexualität galt es somit zu ergründen, zumal es etwas Unbekanntes und Fremdes darstellte. Diese Aufgabe übernahmen im 19. Jahrhundert die Mediziner. Diese gingen ihrerseits davon aus, dass Homosexualität eine vererbbare „Krankheit“ sei. Da die Homosexualität nicht nur als intolerabel und zu dringender Intervention zwingend angesehen wurde, sondern auch als ernstzunehmende Krankheit, galt es diese zu erforschen.

Die Homosexualität wurde im 19.Jahrhundert nicht nur aus medizinischer Sicht als Anomalie angesehen, sondern galt als Bedrohung für die Gesellschaft! Aus diesem Grunde wurden Homosexuelle sozial stigmatisiert. Dies äusserte sich vor allem dadurch, dass sie von der Polizei strafrechtlich verfolgt wurden; unter anderem auch wegen des Vorwurfs der Pädophilie. Von der Justiz wurden harte Strafen für die Liebe gleichgeschlechtlicher Menschen verhängt. Homosexuelle mussten ihre als anormal wahrgenommene Liebe in der Öffentlichkeit verstecken, um Polizeispitzeln aus dem Weg zu gehen.

Die rechtliche Situation in Bezug auf Menschen, die sich "unzüchtig" verhalten, ist in der Schweiz erst mit der Schaffung des StGB 1929 und 1931 und mit der Abstimmung von 1938 per 1. Januar 1942 gesamteidgenössisch geregelt worden. Zuvor hatte jeder Kanton sein eigenes Strafgesetz, und die waren in Bezug auf "widernatürliche Unzucht" sehr verschieden. Der Kanton Zürich lehnte sich an das Preussische Gesetz und ab 1881 an das entsprechende deutsche Reichsgesetz an, wonach dieses Tun je nach Art eines Prozesses mehr oder weniger lange Gefängnisstrafen gemäss dem entsprechenden §175 nach sich zog. Daher auch die Bestrafungen von Jakob Stutz. (Auskunft von Ernst Ostertag)

Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Homosexualität im 19. Jahrhundert nicht im Normalverständnis der Gesellschaft verankert war und etwas Fremdes und Bedrohliches darstellte. Mediziner bezeichneten sie gar als vererbbare Krankheit und suchten nach anatomischen Unterschieden. Deshalb wurden homosexuelle Menschen sozial stigmatisiert und verfolgt.

Quellen:

Daniel Gasser